Erhabene Informatik

Wir reden oft über das Bild der Informatik, das viele Menschen haben oder besser nicht haben. Wir können nicht genau bestimmen, woher die vielen Missverständnisse rühren oder wie man sie ausräumen kann. In der Dezemberausgabe 2009 des Informatik Spektrum adressiert Gunter Dueck in seiner Kolumne Das Erhabene, die Sterne und die Informatik ähnliche Fragen im Kontext der Astronomie:

Das muss das Erhabene des Weltalls sein, das mich auch oft erfasst. Und natürlich blitzt sofort die Assoziation zu Immanuel Kant auf, der alles in erhabene Worte fasste:
“Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je älter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.”
Bei Informatik ist das irgendwie anders, oder? Und in der Mathematik auch. Dort ist nie dieser heilige Schauer zu spüren, wohl aber immer wieder das Gefühl überirdischer Schönheit – für die man allerdings oft einen speziellen Sinn braucht. Welchen Sinn “befriedigt” Informatik? Hat sie je darüber nachgedacht?

Wer in den Himmel sieht, fängt an zu träumen.

Er schreibt noch über die Erhabenheit der Astronomie, die Schönheit der Mathematik und stellt die Frage, warum es keine positive Belegung der Informatik gibt. Gerade im Kontext des Hefts, wo es um Informatik als Hilfswissenschaft für Astronomen und Astrophysiker geht, ist diese Frage überaus angebracht. Mir sagte ein Astrophysiker mal: “Informatik brauchen wir nicht, programmieren können wir selber!” Ich konnte ihm nicht klarmachen, wie widersprüchlich seine Aussage ist.

Dient Informatik nur dazu, anderen Wissenschaften zu helfen? Oder ist sie nur deshalb nicht ähnlich hoch angesehen wie Physik und Mathematik, weil sie so neu ist? Ich persönlich glaube letzteres, denn die Informatik hat sehr wohl aus sich heraus eigene Konzepte entwickelt, die nun andere Gebiete bereichern (können). Und gerade die Tatsache, dass heute kaum noch ein Forscher ohne die eine oder andere Form der Informatik auskommt, macht sie doch spannend — wenn man sie weniger als Knecht denn als Treibstoff für weiteren Fortschritts sieht. Dueck beendet seinen Artikel philosphisch und optimistisch, fast schon euphorisch:

Informatik bringt eine technologische Revolution hervor, ein neues Zeitalter bricht an. Das wird dauernd gesagt, aber nicht sehnend gefühlt.

  • Informatik baut ein “Betriebssystem” für die zukünftige Welt
  • Das Internet wird zu einem gigantischen Roboter im Netz
  • Informatik erweitert den Geist des Menschen bei jeder Forschung
  • Das Internet wird zum kollektiven Weltbewusstsein
  • Das Internet kultiviert die Welt und vereinigt die Menschen

Klingt das nicht gut? Warum zählen wir immer nur Gefahren auf? Die Bürger fürchten nur noch ein paar Jahre, dass Computer das unter den Teppich Gekehrte hervorholen — man merkt ja bald, dass sie bei der Steuer schummeln und viel zu oft zum Arzt gehen, um sich für jedes Wehweh eine vierte Meinung zu holen, bis ein Arzt ihre Eigendiagnose akzeptiert. Ja, und neuerdings erfährt man, dass sich Personaler wirklich Personen im Netz anschauen, wen sie da einstellen, und sich nicht einfach an die gestylte Akte klammern! Und die Piratenpartei jammert über Internetzensur!
Alles nur Begleiterscheinungen des Kulturwandels zum Besseren! Früher sind genug DDR-Bürger wegen ARD/ZDF-Anschauens ins Gefängnis gewandert, aber das Fernsehen hat doch letztlich maßgeblich mit die Mauer geschleift?! Das wird das Internet mit den restlichen Weltmauern auch tun — und natürlich wehren sich die Verschanzten! Na und?
Wir gehen in eine friedlichere Welt! Die Vernetzung wird so groß, dass jedes Husten im Netze einen Kurssturz verursacht — und den will keiner mehr! Alles wird ein einziges großes System. Wenn wir vor den Pyramiden stehen, spüren wir das Erhabene des Pharao. Fühlen Sie das nicht bald auch ein bisschen beim virtuellen Anblick des ganzen Internets?
Und wenn Sie darauf schauen — ruft dieser Anblick nicht doch Ideen des Guten in Ihnen hervor? Warum sehen wir nicht, dass wir mit der Informatik nach den Sternen greifen?

Informatik als bunt verpackte Massenware

Ich teile sicher nicht jede einzelne Wertung mit Dueck, aber die Denkrichtung gefällt mir. Großteile des Fortschritts in den letzten zehn, zwanzig Jahren dürften der Informatik oder ihren Früchten zu verdanken sein, und trotzdem führt die Wissenschaft ein stiefmütterliches Dasein in Berichterstattung und Denken. Ich vermute ja, dass das daran liegt, dass viele Menschen nur bunte Plastikschachteln sehen, die noch buntere Bilder zaubern, aber die Leistung dahinter nicht erfassen können. Die Arbeit, die in einer Pyramide steckt, und der Wahnsinn des Strebens nach einem Grabmal dieser Größe sind sofort offensichtlich. Die Arbeit im Kernel eines Betriebssystem hingegen ist vollkommen verborgen. Informatik ist so gut, dass man sie nicht am Werke sieht. Außerdem kann nicht erhaben wirken, was inflationär verfügbar ist: Pyramiden gibt es nur einige wenige, der Sternenhimmel ist unerreichbar, MP3-Spieler aber hängen ganz fassbar in jedem Kaufhaus zu Hunderten. Produkte der Informatik sind billig, weil sich die Leistung nicht im Material, sondern in ihrer Verquickung manifestiert. So steht Informatik mitten im Alltags jedes Menschen der westlichen Welt, wird aber nicht erkannt, weil sie überall und getarnt ist.

Was können wir tun? Können wir als Fachkundige den Unwissenden unser Fach erklären, Faszination oder wenigstens Respekt wecken? Oder müssen wir hinnehmen, dass wir gemeinsam mit der Informatik ein Schattendasein führen? Christoph Drösser, Redakteur für Wissenschaftsthemen bei der ZEIT, findet im gleichen Heft Antworten. Er schreibt im Artikel Die Macht der falschen Bilder, dass zwar alle die schönen Bilder der Astronomen, Mediziner und Physiker auf den Titelseiten ohne Informatik gar nicht schön wären, aber:

Aber diese Geschichte liest sich nicht so spannend wie die vom einsamen Beobachter, der frierend die Nächte durchwacht. Geschichten über Daten und Algorithmen sind einfach nicht sexy. Und das faszinierende Bild ist stärker als jeder Text, der einen Wirklichkeitscharakter relativiert. [...] Nur sieht man dem Endprodukt nicht an, ob der dahinter steckende Algorithmus ein guter oder ein schlechter war, ob also gute oder schlechte Informatik im Spiel war. [...] Letztlich sind es die Informatiker, die hier die Qualität sichern. Diese Geschichte kann und muss man auch ab und zu einmal aufschreiben. Aber sie hat wenig Chancen gegen die Macht der Bilder, gegen die Faszination der letzten Fragen. Sie ist der Motor, der die moderne Wissenschaft antreibt, aber nur eine Minderheit will einen Blick unter die Haube werfen. Den Glamour — sofern man bei Wissenschaft von Glamour reden kann — ernten die anderen. Die Welt ist nicht immer gerecht!

6 Comments.

  1. Die, die von gesetzteren Zeitschriften als ,,Digital Natives” bezeichnet werden, sind jetzt nur geringfügig älter als wir, und noch lange nicht in den Redaktionen und Regiestühlen der Unterhaltungsindustrie angekommen. Ich will nicht behaupten, dass in fünfzig Jahren jeder ein solches Verständnis von der Informatik hat, wie wir es als Informatikstudenten jetzt haben, aber ich bin mir doch sicher, dass es zumindest nur besser werden kann. :-)

    Wir leben sozusagen immer noch im intellektuellen Wildwest! Yeehaw! — Und wenn das mal nicht sexy ist! :-)

    Aber mal im Ernst: Ich glaube, dass Glamour einem Fach nicht zuträglich ist. Was hast Du davon schon? Eine übergroße Horde Studenten, die frustriert aufgeben müssen, weil das Fach nicht ihren Prinzessinnen/Prinzen-Träumen gerecht wird? Das kann nicht das Ziel sein.

    Mit Respekt wirfst Du eine viel realistischere Frage auf — und auch wichtiger, wie ich meine. Im Gegensatz zu Glamour, der sich allein in sich selbst begründet, verstehe ich Respekt als etwas viel bodenständigeres, fundiertes. Mein Verständnis von Respekt ist, dass ich etwas auch — zumindest im Teil — verstehen muss, um es *wirklich* respektieren zu können. Ich respektiere die freiwillige Feuerwehr, weil ich verstehe, was sie tut, und dass es manchmal schwere körperliche Arbeit zu unmöglichen Zeiten bedeutet. Aber gib mir ein beliebiges theoretisches Paper, selbst aus der Informatik, das voller Beweise ist, zu denen mir der Zugang fehlt — Ich unterstelle mal, dass es auch in diesem Gebiet Schrott gibt, und schwupps fehlt mir schon wieder jegliche Grundlage, das Werk zu würdigen. Es könnte genausogut der größte Müll wie auch Turing-Award-verdächtig sein. Wie kann ich das würdigen, wenn man mich vielleicht behumst?

    In diesem Sinne gesprochen, wenn Du in einem Dorf ohne Computer lebst, ist es würdevoller, den Mist aus dem Stall zu karren, als P=NP zu beweisen.

    Jetzt habe ich meine eigene Argumentation kaputt gemacht. Wie machen die Mathematiker das eigentlich — sind die würdevoll? Bekommen die Respekt?

  2. Nein, ich glaube nicht, das Glamour dem Fach direkt hilft — aber er hilft, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Und ohne die kann auch nichts anderes entstehen.

    Ich denke, Mathematiker bekommen Respekt, ja. Denn jeder ist mit Mathematik (oder etwas, das man dafür hält) in Berührung gekommen und hat ein intuitives Verständnis für das Aufgabenfeld oder zumindest die “Schwere” bekommen. Genauso Physik, Chemie und all die anderen Wissenschaften, deren wahre Natur und Leistung natürlich kein Laie erfassen kann, denen man aber sofort Aufgaben und Ergebnisse zuordnen kann, für die man sie würdigt.

    Informatik hingegen ist für viele eine schwarze Box. Bei der älteren Generation ist das klar, aber auch Digital Natives sehen nur den Softwareteil, die Programmierung. Informatik ist aber viel mehr als das! Der von mir zitierte Astrophysiker, selbst ein intellektueller und im Netz aktiver Mensch, ist da ein perfektes Beispiel.

    Du hast natürlich recht: wahre, qualifizierte Würdigung kann nur der Kenner bieten. Aber das ist gar nicht das, worauf es mir hier ankam, weil das, wie gesagt, nicht nur die Informatik betrifft. Wir müssen auf Die Liste kommen! Beispiel Auto: Jeder (insbesondere Medien) nennt sofort Maschinenbauer und Elektrotechniker, wenn die Branche mal wieder über Nachwuchssorgen klagt . Informatiker habe ich noch nicht genannt gesehen.

  3. Vorsicht, diese Antwort ist lang.

    Gut, Du sagst, die Informatik ist “viel mehr als das” — was gibt es denn nun in der Informatik neben der Software, was würdigenswert wäre? Sind die theoretischen Gebiete letztendlich nicht nur der notwendige stabile Unterbau, um funktionierende (Software-)Systeme zu schaffen? Oder betrachtest Du das eher als losgelöst und zweckentfremdet — in diesem Fall wäre Respektlosigkeit ja auch angebracht, oder?

    Wegen dem Beispiel mit der Autobranche: Stehen denn die Mathematiker mit auf “der Liste”? Wenn nicht bei der Autobranche, wo würden sie sonst genannt werden?

    Ich denke, dass wir nicht auf “der Liste” stehen, hat eher was damit zu tun, dass die Informatik oft in der “Zuarbeiterrolle” ist: Man braucht sie in der Industrie in vielen Fällen, aber selten steht sie im Zentrum der Wertschöpfung. Genau wie die Mathematik. Da ist es kein Wunder, dass wir zum Thema Auto nicht als erste genannt werden.

    Zudem — es gibt auch Branchen, in denen die Informatik eine größere Rolle spielt. Nur dass Deutschland leider verpasst hat, auf die entsprechenden Züge etwas schneller aufzuspringen. In den USA spriesst im Silicon Valley ein Web-Startup nach dem anderen aus dem Boden, an der Universität Kaiserslautern hat man fast schon den Eindruck, dass für einen Informatiker an der Autoindustrie kein Weg vorbeiführt.

    Ich glaube, ein guter Weg, das Image der Informatik aufzupolieren, wäre, wenn die Technik einfach mal auf einen halbwegs stabilen Stand kommen könnte, und nicht so oft Inkonsistenzen wegen der sich ständig gegenseitig ablösenden Standards entstünden. Wenn Informatiker sich mit sinnvolleren Dingen beschäftigen könnten, als ständig dem neusten Hype nachzuhüpfen, der innerhalb weniger Jahre hoffnungslos veraltet ist. Und wenn Software-Entwicklung endlich flächendeckend das wäre, wie sie heisst, und nicht nur ein dilletantischer Hack, der den nächsten jagt. Wer will das schon?

    Wenn Du mich fragst, ist davon vieles eine Folge dieser rasenden Entwicklung. Kleines Beispiel: Man sagt, man benötigt mehrere (ca. 5?) Jahre um in der Objektorientierung durchzusteigen. Im Mainstream ist OO erst Mitte der neunziger Jahre mit dem GOF-Buch angekommen. Die ersten “Mainstream-Entwickler” sind also erst 2000 in der Lage gewesen, objektorientierten Code zu schreiben, der halbwegs den aktuellen Standards entspricht. Davon ausgehend, dass jedes Jahr eine konstante Anzahl Entwickler in die OO-Softwareentwicklung einsteigt, (optimistisch) keiner davon aufhört, und sie alle eine konstante Anzahl Code pro Zeiteinheit schreiben, wurde *mehr als die Hälfte* des objektorientierten Codes seit 1995 vor Abschluss der “Trainingsphase” geschrieben.

    Wenn man darüber mal nachdenkt, fragt man sich, ob es wirklich so eine gute Idee ist, jetzt auf die Renaissance der funktionalen Programmierung zu hoffen — dann geht das Spiel nämlich von vorne los.

    Deshalb die Lösung: Es pendelt sich alles endlich auf Technologien ein, die hinreichend gut funktionieren, dass sie nicht mehr so häufig ersetzt werden müssen. Im Beispiel: Wenn OO uns noch für 50 Jahre als das Mainstream-Paradigma erhalten bleibt, ist der Anteil gemurkster OO-Software in 50 Jahren verschwindend gering. Damit wird die Software stabiler, und der Sysadmin ist ein braungebrannter Beach-Boy, der Dir mit strahlendem Lächeln alles in kürzester Zeit zum Laufen bringt, indem er am Strand sitzend ein paar Multitouch-Gestures auf sein solarbetriebendes iPad 3000 wischt.

  4. Von oben nach unten:

    In der Informatik gibt es sehr viel, das nicht direkt Software ist. Klar, das allermeiste wird am Ende in Software gegossen, aber Konzepte müssen auch einmal für sich alleine stehen dürfen. Das wäre sonst ja, als würdest du Physik auf Laserpointer begrenzen. Nimm zum Beispiel Dinge im Kontext der Bioinformatik, die die dort anfallenden Probleme und Datenmengen überhaupt erst händelbar machen — und zwar theoretisch! Die Implementierung ist dann noch einmal eine Sache für sich. Nimm Lerntheorie, die die Basis für “intelligente” Systeme legt.
    Sicher sind das Sachen, die niemals bei Tante Irmchen ankommen. Ich weigere mich aber, unabhängig von der jeweiligen Wissenschaft, nur das, was in der Hand des Endkunden landet, als Inhalt des Faches anzusehen. Das ist zu billig. Die unteren Ebenen gehören schon dazu.

    Zur Autobranche: Nein, Mathematiker stehen da sicher nicht auf Der Liste — aber da ich hier durchaus Software (also Produkt der Informatik) meinte, ist der Vergleich auch unfair, der mit Maschinenbauern viel passender. Deine Einschätzung, dass Informatik selten im Zentrum der Wertschöpfung steht, halte ich für falsch. Kaum ein Haushaltsgerät, geschweige denn ein Auto kommt noch ohne Software (und damit ohne den ganzen Berg Informatik, der die Software möglich macht), aus. Angeblich soll ja Software mittlerweile oft den Großteil der Kosten verursachen, da Software nach wie vor von (qualifizierten) Menschen gemacht werden muss, die Waschmaschine selbst aber von Computern (!) oder Billigkräften in Fernost zusammengesteckt werden kann.

    Web-Startups siehst du als “verpassten Zug” an? Nun, da die Biester im Mittel so schnell sterben, wie sie gegründet werden, bin ich da eher konservativ und skeptisch. Unabhängig davon, dass man als Informatiker sicher genau wie als Mathematiker oder Physiker in so gut wie jeder Branche unterkommen kann, braucht eigentlich jeder heute Informatiker. Ich denke da gerade an CERN, ja eigentlich ein Hort der Physik, die durch ihre ausgefeilten Experimente aber mehr Daten produzieren, als sie gebrauchen können. Und siehe da, die stellen Informatiker ein. Die werden sicher letztenendes eine Form von Software bauen, aber eben keinen 0815-GUI-DB-Quatsch, sondern mit ganz viel Gehirnschmalz ausgetüftelte, maßgeschneiderte Lösungen.

    Deine Ausführungen zu Programmierproblemen sind sicher richtig, in meinen Augen aber kein Problem der Informatik. Wie du sagst, sollte es nicht Inhalt einer Wissenschaft sein, Trends hinterherzurennen. Wer die Verfolgung eines Hypes als Forschung verkauft, ist schon per Definition auf dem falschen Pfad, finde ich. Ich weiß, dass es sowas gibt, aber das macht es nicht besser. Nebenbei bemerkt ist die von dir als irrelevant (überspitzt) verschriene Theorie wesentlich stabiler als Softwareentwicklung! Jedenfalls: Die Wissenschaft hat nicht im Griff, welcher Programmierer welche Sprache wie gut benutzt. Da muss die Industrie, da muss der Markt regeln. Programmieren ist eben (scheinbar) zu einfach und zu billig, das meint jeder Depp zu können. Und die heutigen Entscheider haben offenbar oft keine Kompetenz auf dem Gebiet.

    Sicher ist Softwarequalität ne wichtige Sache, keine Frage. Sie entsteht aber mehr in den Köpfen und Geldbörsen der Menschen, weniger auf den Whiteboards der Forscher. Tools für saubere Programmierung gibt es längst.

    Die Vorstellung, dass ein Typ per iPad am Strand Bugs bekämpft, macht mir ernsthaft Angst. ;)

  5. Hallo,

    Was die Theorie angeht, haben wir uns glaube ich missverstanden. Ich zitiere darum noch mal, was ich schon zu Anfang des vorhergehenden Kommentars sagte: “Sind die theoretischen Gebiete letztendlich nicht nur der notwendige stabile Unterbau, um funktionierende (Software-)Systeme zu schaffen? Oder betrachtest Du das eher als losgelöst und zweckentfremdet — in diesem Fall wäre Respektlosigkeit ja auch angebracht, oder?”

    Ich verteufle ganz explizit *nicht* die Theorie. Ganz im Gegenteil finde ich, dass ordentliche mathematische Grundlagen oft ein wichtiger Bestandteil stabiler Systeme sind, und damit einen wichtigen Beitrag liefern. Aber die Einschränkung bleibt auf “oft”: Wer Dinge tut, die ohne Anwendung bleiben, schafft keine Wertschöpfung.

    Theorie macht denke ich immer auch für sich allein genommen Sinn, wenn sie nur unter Einbeziehung von Praxisaspekten sinnhaft wäre, wäre es ja keine Theorie. Nur muss der (abstrakte) Kontext, in den sie eingebettet ist auch eine konkrete (praktische) Instanz besitzen, so dass die Erkenntnisse zur Anwendung kommen können.

    Auto: Gut, wir hängen uns an Terminologien auf. In einem Haushaltsgerät oder Auto steckt sicherlich viel Informatik. Dennoch ist das Zentrum der Wertschöpfung — der Grund, warum das Produkt von Kunden gekauft wird — nicht die Informatik, sondern die Eigenschaft dass es fährt, Gemüse zerkleinert oder Kaffee kocht.

    Ich weiss nicht, ob ich Deinen Abschnitt mit dem CERN-Beispiel verstanden habe, aber ich interpretiere ihn so: Als Informatiker macht man mehr als nur schnöde Standardsoftwareentwicklung, z.B. aufregende Dinge mit der IT-Infrastruktur hinter Teilchenbeschleunigern.

    Wenn das so gemeint war, dann stimme ich Dir zu; Das gibt es sicherlich, ABER:
    1) Es ist immer noch Softwareentwicklung
    2) Komplexe Systeme kann man nur mit fundierter Kenntnis bewährter Algorithmen, Datenstrukturen und Designstrategien ernsthaft bauen.
    3) Es gibt kaum Felder mit bewährteren Algorithmen, Datenstrukturen und Designstrategien als GUIs und Datenbanken(!!!)

    Ich meine: Man lernt nur, tolle Sachen zu bauen, indem man sich ansieht, wie andere bereits tolle Sachen gebaut haben. Wenn Du einen guten Entwickler kennst, der das über eine Abkürzung geschafft hat, lass es mich wissen, denn dann wäre es nett, wenn er mir *zeigt, wie er das macht*(!) :-)

    Ich finde die Spaltung zwischen der akademischen und industriellen Informatik bedenklich: Ich gebe Dir mal ein paar Beispiele aus einem Feld, bei dem das anders läuft, und mit dem sich viele Informatiker gerne vergleichen: Der Architektur. (Angaben beziehen sich auf Studium an der TU KL)
    * Jeder Architekturstudent muss ein Praktikum auf dem Bau machen (Ja, als Bauarbeiter) — Parallel in der Informatik: Es ist möglich, durch das Studium zu gehen, ohne sich ernsthaft mit Programmierung auseinander setzen zu müssen. Und ich kann Dir einige Informatiker an der Uni nennen, die selbst ein gutes Stück zu wenig Respekt vor dieser Tätigkeit haben.
    * Es gibt in der Architektur Vorlesungen, bei denen Du Dich mit verschiedenen Design-Stilrichtungen beschäftigst, ebenso welche, in denen Du Dich mit anerkannten architektonisch bedeutenden Bauwerken beschäftigst — Parallele in der Informatik: Gibt es, aber hast Du in Deinem Studium mal was davon gehört?
    http://www.handbookofsoftwarearchitecture.com/index.jsp?page=Main
    http://www.info.ucl.ac.be/~pvr/book.html
    oder auch das gute alte Design-Patterns-Buch
    * Meine Architekten-Mitbewohner verbringen viel — um nicht zu sagen den größten Teil — ihrer Zeit mit dem Anfertigen von Modellen, Zeichnungen, Vorträgen und textuellen Beschreibungen, wie sie sie im Beruf (ich habe extra danach gefragt) ebenso machen werden müssen. — Das kann man vom Informatik-Studium kaum behaupten. Verglichen damit, daß der größte Teil der Abgänger Software entwickelt, ist es geradezu lächerlich, wie wenig das auch gelehrt wird.

    So, das ist also ein Fach, bei dem das Studium einen deutlich höheren Praxisbezug hat. Es ist nicht in jedem Fach so traurig wie in der Informatik, dass Uni und Industrie zwei ganz verschiedene Welten sind, in denen man ganz unterschiedliche Dinge tut.

    Ich gebe zu, der Vergleich zwischen Architektur und Informatik hinkt — nee, moment mal, ich glaube er hat zwei gebrochene Beine und zieht sich nur noch mit den Armen vorwärts. Aber er ist nicht von mir. Haha! :-)

    Die Betrachtung macht mir immer wieder Spass. :-)

    Aber um mal wieder die Brücke zurück zum CERN zu schlagen — vielleicht wäre man dennoch mit einer Ausbildung entlang vieler funktionierender und wohlgebauter Beispiel-Software, gepaart mit ordentlicher Mathematik, besser auf einen solchen Job vorbereitet. Was meinst Du?

  6. Nochmal zur Theorie: Nein, ich finde nicht, dass Theorie immer Anwendung braucht, um wertvoll zu sein. Und das aus einem ganz wichtigen Grund: Oft genug findet Theorie erst Jahrzehnte später den Weg in die Anwendung. Wenn man jetzt Theorie ohne direkt ersichtliche Anwendung tötet (= nicht finanziert), geht uns einige Jahre später die Theorie aus, auf der man Neues aufbauen könnte. Natürlich wird nicht jede Theorie in einer gewinnbringenden Anwendung aufgehen, aber das Risiko kann und muss man an einer Universität (!) eingehen. Anwendungsgetriebene Forschung sollte eigentlich eine Domäne der Fachhochschulen sein.

    Auch sollte sich das Curriculum einer Universität keinesfalls nach den Tätigkeiten der Absolventen richten. Wenn es da (störende) Differenzen gibt, absolvieren die Studenten die falsche Ausbildung. Universität ist nur nachrangig dafür da, kurzfristige und trendgetriebene Bedürfnisse des Industriemarktes zu befriedigen. Dafür gibt es Fachhochschulen, wie gesagt. Dort wird genau das gemacht, was du forderst.

    Ich weiß, dass es (Uni)Informatiker gibt, die faktisch nicht programmieren können, geschweige denn Software bauen. Aber: Muss jeder _Uni_informatiker das können? Ich glaube nicht. Ich persönlich finde, dass schon jeder Informatiker zu einem gewissen Grad programmieren können sollte, eben um sich Proof-of-Concept-Implementierungen basteln zu können, aber für marktreife Produkte gibt es Profis. Ein Unistudium ist nunmal keine Berufsausbildung, das muss man akzeptieren und meiner Meinung nach auch erhalten. Wir lernen Denken.

    Der Vergleich mit Architekten hinkt gar nicht so sehr, finde ich. Er legt nur offen, was ich schon länger behaupte: Die Grundlagen der Informatik und Softwareentwicklung entwickeln sich zu eigenen Feldern. Ebenso wie Physik und Maschinenbau werden sich die beiden Komplexe trennen müssen, und ich fände das auch gut. Denn dann würde diese elende Diskussion endlich enden und wir hätten Grundlagenforscher auf der einen und Ingenieure auf der anderen Seite. Derzeit versucht man beides auf einmal auszubilden.

    Ich denke, mein selbstgesponnenes Beispiel am CERN löst man am Besten, in dem man ein, zwei theoretische Informatiker oder Mathematiker mit einem beteiligten Physiker zusammensetzt und die beiden ein plausibles und effizientes Konzept ausarbeiten, dass sie dann eine Handvoll Softwareentwickler unter Aufsicht umsetzen lassen. Woher kommt der Anspruch, dass der Denker auch selbst programmieren können muss? Der Architekt ist auch nicht der Vorarbeiter auf dem Bau. ;)